#39 Zu viel Stütze – gibt’s das?

Also zuerst einmal gibt’s da natürlich ein semantisches Problem. Stütze und Support, das ist natürlich etwas Gutes per se. Zu viel Support ist also ein Paradoxon. Aber ich sag’s euch, ich arbeite mit mindestens 50 Prozent aller Sänger*innen eher daran, ihnen abzugewöhnen, ihren Luftstrom mit aller Gewalt bei hohen Tönen unter die Stimmbänder zu pressen. Wenn die Bauchmuskeln hart sind, die Adern am Hals rauskommen und der Kopf beim Singen rot wird, daaaann köööönnte es sein, dass da durchaus etwas Optimierungspotenzial schlummert.

Ich gehöre ja selbst zu dieser Kategorie von Sänger*innen. Hoher Ton im Anflug, also „gib ihm“. Volle Power, der Oberkörper ist auf Anspannung, das Kinn schiebt sich vor. Und dann wundern, wenn man nachher ein bisserl heiser ist…

Ein bis zum Platzen angespannter Rumpf und angehaltene Luft – vielleicht gut fürs Gewichtheben (ist Zweiteres das?) – nicht aber fürs Singen (c) Pexels/Pixabay

Es dreht sich alles um Balance, wie ich schon letzte Woche versucht habe, hier zu beschreiben. Stütze und Support dreht sich auch um „Resistance“, um Widerstand in der Ausatmung. Dieser Widerstand (weite Rippen, weiter Rücken…) darf nicht zur Blockade werden. Die Ausatemmuskulatur muss immer gewinnen. Wie beim Luftballon aufblasen. Das braucht eine gewisse Power, aber auch eine kontinuierliche Bewegung.

Zu wenig Luftdruck ist nicht und bringt unsere Stimmbänder nicht ausreichend zum Klingen, zu viel aber auch! Wer presst, pusht, als würde er*sie einen schweren Zementsack heben, wird kaum einen klaren Ton singen können. Einerseits kommen unsere lieben Konstriktor-Muskeln ins Spiel, andererseits haben unsere Stimmbänder einfach keine Chance, mit der Menge an Luftdruck irgendwie klarzukommen. Der Ton wirkt gepresst.

Tipps und Tricks, um die Bauchmuskeln abzulenken

  • Der Einserschmäh vieler Gesangsleher*innen ist das „Aufheben„. Anstatt sich beim höchsten Ton zu verspannen, zu drücken, tun wir also so, als würden wir etwas vom Boden aufheben. Wir beugen uns beim Ton also vorne über. Warum? Um die Bauchmuskeln, die sonst bei diesem Ton oft blockieren und auf 100% anspannen, zum Entspannen zu „zwingen“.
  • Auch „Zeitlupen-Salsa“ ist ein netter Trick. Wer zu tense im Oberkörper ist, zu viel pusht und drückt, kann probieren in Zeitlupe einen Salsa tanzen. Hauptsache, die Hüfte bewegt sich. Auch hier gilt: ein Blockieren der Bauchmuskeln ist nicht möglich. Und gleichzeitig bleibt ein gewisser Spannungsgrad erhalten.
  • Etwas „extremer“, weil auch ein bisschen paradoxer: Den Bauchnabel wirklich nach innen ziehen, aktiv. Langsam, wenn möglich. Sonst entsteht auch hier wieder eine Verspannung. Auch hier geht es darum, die Gewohnheit des Pressens zu verhindern. Und wenn du glaubst, dein Nabel ist schon ganz weit eingezogen, dann geht noch mehr Bewegung. Nur nicht „stehen bleiben“ in der Bauchbewegung. Nur nicht dagegen andrücken.
  • Fokus auf die Rückenmuskeln ist ebenfalls ein guter Gedanke: einen breiten Rücken denken (unter den Schulterblättern) und den Bauch einfach seine Arbeit machen lassen, den Bauch fallen lassen – ergo: ihn beim Singen „hineinkommen“ lassen.

Und genauso, wie sich die generelle Idee von Stütze und Support sich für jede*n Sänger*in sich ein bisschen anders anfühlt, ist das auch bei den genannten Tricks. Manche helfen, manche weniger, manche erst auf den zweiten Blick. Und dann gilt es, diese neue Balance in eine Gewohnheit zu erarbeiten.

Stütze, Stütze, Stütze!!!

Ich dachte übrigens lange, dass ich mehr, mehr, mehr stützen muss, um die hohen Töne im Pop/Rock/Musical zu erreichen. Was hab‘ ich mich gequält, die Töne irgendwie rausgequetscht und gebrüllt. Die Erleuchtung kam erst vor einigen Jahren, dass jenes Vokaltraktsetting, das ich für diese Töne bevorzuge und brauche, diesen ganzen Druck und auch die Lautstärke nicht braucht. Es braucht zwar „Energie“ und das Gefühl von „Resistance“, aber eben kein Pressen. Die Vorstellung bzw. auch die aktive Bewegung von „eine schwere Schublade aufmachen“ funktioniert bei mir persönlich immer gut. Aktiv sein, aber nicht den Bauch hinausdrücken.

Und so kann jede*r wahrscheinlich eine andere Geschichte erzählen. Und ob es mal zu viel oder mal zu wenig Stütze ist – das kann auch Tagesverfassung sein. Es kann schon tricky sein. Aber man lernt sich mit der Zeit auch gut kennen. Immer wichtig: selbst spüren, wie und wo man Support braucht beim Singen. Wann ist es zu wenig, wann drücke ich an der falschen Stelle zu viel? Und was kann ich dann tun? Darum geht’s auch in meinem Gesangsunterricht. Hilfe zur Selbsthilfe sozusagen. Aber das ist ja ohnehin der Plan im Idealfall. Und eines kann ich euch prophezeien: Stütze wird ein Sänger*innenleben lang immer wieder mal Thema sein. Und als Gesangslehrer in gefühlt jeder Gesangsstunde. Und womit? Mit Recht!

Angenehme Feiertage wünsche ich Euch!

Veröffentlicht von Klemens Patek | vocalfriday

Vocal Coach | Sänger - Frage drei Gesangslehrer und du bekommst vier Antworten. Hier bekommst du die fünfte ;) Bei mir geht's ums Singen, um Gesangstechnik, um CVT (Complete Vocal Technique) und Themen wie Achtsamkeit, Selbstvertrauen und Künstlersein. Bin gespannt, wohin mich die Reise führt. Das wichtigste für mich: Respekt und freundschaftlicher Austausch. Bashing anderer Künstler oder Coaches liegt mir fern. Mein Motto: Richtig ist, was dem/der Sänger*in gut tut und konkret weiterhift!

3 Kommentare zu „#39 Zu viel Stütze – gibt’s das?

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