#40 Interpretation: Und jetzt bitte nochmal mit Gefühl

„Okay, das war schon ganz gut. Und jetzt noch mit ein bissl Gefühl.“ Kennen wir doch alle, diesen Satz. Im Chor, in der Gesangsstunde,… kommt schon mal vor. Aber wie? Worüber ich mir früher nie viele Gedanken gemacht habe, war das Thema „Interpretation“. Wenn es also nicht um Noten und technische Überlegungen geht, sondern um den Ausdruck, um die Botschaft, die ich dem Publikum übermitteln will. Ich bin schon eine Art Rampensau und mir fällt es leicht, mich auf der Bühne zu öffnen. Ich werd’s schon irgendwie „gspian“* dann beim Gig… Aber nicht immer kommt der Flow, nicht immer bin ich „voll deep“ im Song. Oft steh ich da und denk an den hohen Ton oder frage mich, wie ich wohl gerade aussehe… Und irgendwann ist dann mir klar geworden: Okay, Interpretation, das muss man doch auch irgendwie üben können.

Ich schreib’s hier nochmal dazu. Ich liebe es, schlechte Symbolbilder für meine Blogbeiträge rauszusuchen. So richtig schlechte, die ich beruflich in meinem Redakteursjob bei der „Presse“ nie verwenden dürfte. Haha. Es ist sozusagen ein ironisches Symbolbild. Ironie, die einen Bildtext braucht. (c) pixabay/Vic_B

Und ja, kann man. Surprise. Es gibt viele verschiedene Übungen, Gedanken, Tipps zu dem Thema. Die erste Frage ist ja immer: „Worum geht’s in dem Song“? Das hat schon einen wesentlichen Einfluss auf unsere Umsetzung. Und manchmal reicht es auch sich des Inhalts bewusst zu machen – das Wirken lassen der Emotion, der Geschichte des Liedes. Man kann sich auch Zeile für Zeile mit einem Lied beschäftigen, einen Erzähler erschaffen (Wer erzählt? Warum? Wem? Wo? …) Dann sind ja eh schon die wesentlichsten Intensitäten beantwortet. Je mehr ich meine Figur ausschmücke, die Situation mir räumlich mache, desto mehr kann ich in den Song, in die Geschichte eintauchen.

Kontext und Subtext – ruhig mal ein bisserl mutig sein

Was mir aber unglaublich Spaß macht, ist, einen ganz anderen Kontext in einen Song zu packen und schauen, was das mit dem Lied macht. Die Sache ist ja die: Ich kann mir zu einem Lied – etwa einem „Ich-wurde-sitzen-gelassen-Herschschmerz-Song“ – zum Beispiel folgendes zusammenbrauen: Er erzählt/spricht/singt eine 45-jährigen alleinerziehende Mutter namens Trisha, die in ihrer Einzimmerwohnung in Buenos Aires in der Morgensonne nach einer vor Sorgen schlaflosen Nacht ihrem schlafenden dreijährigen Sohn von dessen fremdgehenden Vater erzählt – wütend und doch zurückhaltend, dass er ja nicht aufwacht. Und dennoch braucht sie ihn als Zuhörer. Es ihm erzählen wollend, aber ihn doch schlafen lassend.

Okay, da war jetzt schon einiges Spannendes dabei, wie ich finde. Die Emotion also durchscheinen lassen, aber nicht ausbrechen lassen. Sich selbst im Zaum halten um jemanden anderen zu beschützen. An welcher Stelle kann ich den Emotionen doch mehr Raum geben? … Kontext also.

Das Spannende an Interpretation ist ja, dass kein Mensch im Publikum weiß, welche Geschichte ich erzähle. Niemand wird nach meiner Interpretation von „Turning Tables“ aus Sicht von Trisha in Buenos Aires nach dem Konzert erzählen, dass er den Sonnenaufgang einer schlaflosen Nacht in Südamerika gespürt hat. Es ist eine Art „Stille Post“ der Emotionen. Bei den Zuhörer*innen kommt vielleicht ganz etwas anderes an, Erinnerungen an eigene, ganz andere Emotionen, Anknüpfungen an Lebensgeschichten von Bekannten oder schlicht gaaaanz andere Bilder und Assoziationen. Und das ist: eeeeegal! Denn genau darum geht’s. Das Publikum mitnehmen, nicht unbedingt ihnen genau vormalen und erklären, was sie zu fühlen haben. Das geht ohnehin nicht. Das würde dann vielleicht eher in Richtung „zu aufgesetzt“ gehen. Zu „geschauspielert“. Und das Feedback hab ich schon oft genug bekommen. Aber dazu ein anderes Mal…

Der „Stalker“ singt „Don’t Stop Me Now“

Das mit dem Kontext kann ich natürlich noch weiter treiben. Und zwar mit Subtext. Die oben beschriebene Geschichte kann ich etwa auch in den Song „Don’t Stop Me Now“ von Queen packen. Macht auch was mit dem Lied. Dieser Widerspruch reizt mich. Geschichten, die mit dem Text eine neue Bedeutung, eben Subtext geben, den das Publikum nicht hört, nicht erfährt. Subtext, der eine neue Ebene der Bedeutung für mich öffnet. Dem Offensichtlichen, dem „Herzschmerz“ etwas Gegensätzliches hinzufügen. Ein „Ich wollte es doch eh schon längst beenden, habe aber niemandem davon gezählt“, ein „Ich glaube, er liebt mich noch immer“, ein „Ich stalke sie jetzt und schreibe einen kranken Drohbrief, während ich singe“. Zumindest kann so eine Story etwas mit der Interpretation machen. Und ich kann fühlen, ob mir das gefällt, was es mit dem Lied macht – oder Testhörer:innen nach ihrer Meinung fragen. Gefällt mir, was mit dem Song, mit der Stimme, mit der Geschichte passiert, wie die Performance ankommt? Dann beibehalten! Wenn nicht, dann gleich wieder verwerfen. Ist nicht anders als mit Gesangstechnik. Eine Wirkung muss gleich spürbar und hörbar werden.

Interpretation kann übrigens auch durchaus äußerst technisch werden, wenn wir uns die Frage stellen, wie „traurig“ klingt? Wie klingt „verliebt“? Da geht es um Themen wie „luftig“ singen, andere Effekte (Wut? mit Distortion?), aber auch Lautstärke, Klangfarbe und – ja, hallo CVT again – Mode. Manches davon ist Marke „Captain Obvious“. Klar werd‘ ich in die traurige, offensichtlich ruhige erste Strophe nicht mit lautem Overdrive oder lauter, rufender Bruststimme reinbrüllen. Aber welches Wort löst die Traurigkeit meines Erzählcharakters aus? Wo kann die Stimme „brechen“, wo klingt sie „luftig“, wo fasse ich Mut und kann mehr Lautstärke und Ton-Kern geben?

Also: Ein paar Gedanken machen und Interpretation üben! Das ist mein Ratschlag. Der Geschichte folgen. Sich nicht darüber den Kopf zerbrechen, wie man gerade aussieht (Oh Gott, was mach ich nur mit meinen Händen???) – das ist ohnehin schon schwer genug. Ruhig auch hier experimentieren und konkret ausprobieren: Zweite Zeile, erste Strophe – da lege ich die Hände aufs Mikro. Wann öffne ich die Augen, kann ich mir erlauben, ein paar Zeilen mit geschlossenen Augen zu singen? Trial-and-Error! Oder Trial-and-Success! 🙂

Das alles kann man ausprobieren. Man muss sich ja nicht zu 100 Prozent daran halten bei der Performance. Aber all das kann Sicherheit und Tiefe und „Meaning“ in einen Song legen. Der Flow kommt dann von selbst – ohne große Gestik. Das finde ich immer toll. Stehen, singen, spüren. Und nicht auf den Text schauen…. Daran hakt’s bei mir dann immer… Haha.

Habt eine schöne Woche! Und singt, Leute! Singt mal wieder! 🙂

*gspian = spüren auf Österreichisch

Nächste Termine mit „Safer Six“
Programm „Sound of Cinema“

Freitag, 13. Mai: Stadtkino Ternitz
Freitag, 3. Juni: Kulisse, Wien

Alle Infos dazu auf unserer Homepage!

Kartenverkauf für Musical „Godspell“ gestartet

Das Ensemble des Theaters im Neukloster in Wiener Neustadt spielt eeeendlich wieder „Godspell“ (nach 1998 und 2003). Eigentlich wär’s ja 2020 schon geplant gewesen. Tolle Musik von Stephen Schwartz, tolle Sänger:innen, tolle Choreografien. Eine humorvoller und interessanter Theaterabend. Ja, mit Bibelkontext. Aber Empfehlung auch für alle Nicht-so-close-mit-Jesus-Menschen, das könntet ihr euch ruhig trotzdem geben… auch wenn ich nicht selbst auf der Bühne stehe.

Infos und Tickets: www.theaterimneukloster.at

Veröffentlicht von Klemens Patek | vocalfriday

Vocal Coach | Sänger - Frage drei Gesangslehrer und du bekommst vier Antworten. Hier bekommst du die fünfte ;) Bei mir geht's ums Singen, um Gesangstechnik, um CVT (Complete Vocal Technique) und Themen wie Achtsamkeit, Selbstvertrauen und Künstlersein. Bin gespannt, wohin mich die Reise führt. Das wichtigste für mich: Respekt und freundschaftlicher Austausch. Bashing anderer Künstler oder Coaches liegt mir fern. Mein Motto: Richtig ist, was dem/der Sänger*in gut tut und konkret weiterhift!

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