#53 Masterclass! Wenn du vor hundert Gesangslehrer*innen etwas vorsingen sollst, das du noch nicht gut kannst

Jetzt war es also so weit. Der International Congress of Voice Teachers hat mit pandemiebedingter Verspätung doch noch stattgefunden. Und diesmal in Wien. Äußerst praktisch. Urlaub ging dann doch vor… Und ich hab’ ich mir nur den letzten Tag vom Kongress gegeben. Allllles kann man in der Planung zwischen Hochzeitsgigs und anderen Verpflichtungen halt auch nicht berücksichtigen. Ursprünglich wollte ich mir gemütlich am Vormittag ein paar Vorträge und Workshops anhören – viele davon waren übrigens äußerst anregend, andere weniger… as usual auf Kongressen – und dann am Nachmittag habe ich mich schon sehr gefreut auf das Lauschen bei Masterclasses im Mozartsaal des Wiener Konzerthauses. Masterclass, das heißt in diesem Fall: Ein*e mehr oder minder bekannter/renommiert/spezieller/interessanter Gesangslehrer*in oder Coach unterrichtet vor Publikum eine*n Sänger*in. Mal mehr oder weniger „open brain“ erzählt der „Master“ dabei von seinen Gedanken oder erklärt seine*ihre Art des Unterrichts. Für den Bereich CCM (Contemporary Commercial Music), also alles, das nicht Klassik ist, war für Samstagnachmittag eine Masterclass mit Anne-Marie Speed angekündigt, deren Name mir schon öfters aufgefallen ist. Weil sie sich lange mit Estill Voice Training beschäftigt hat. Aber auch, weil sie etwa Voice Coach bei etlichen Westend-Musicals in London bzw. bei der TV-Show „X-Factor“ in Großbritannien tätig war. Also: Ihre Masterclass wollte ich mir jedenfalls ansehen.

Und dann hat sich die Möglichkeit ergeben – durch ein paar glückliche Zufälle -, dass ich selbst singen darf. Also ich singe, Anne-Marie Speed unterrichtet mich. Und im Publikum: 1000 Gesangslehrer aus aller Welt (in meinen Albträumen war der Saal voller, schlussendlich waren es wohl nur 100 bis 200). Und zu diesem Zwecke sollte man also ein Lied suchen, an dem man arbeiten kann. Natürlich, man kann immer an irgendwas arbeiten, aber ein Lied, das man subjektiv „perfekt“ beherrscht – warum damit einen Erste-Liga-Vocal-Coach behelligen? Andererseits: Blamieren will man sich auch nicht…

Ich will lernen. Wir sind doch alle nur Menschen

Ich war natürlich nervös irgendwie im Vorhinein. Aber das sind Gelegenheiten, zu denen man meiner Meinung nach Ja sagen „muss“. Gesangslehrer*innen können zwar judgy sein, aber andererseits ist es auch eine Gemeinschaft von Gleichgesinnten. Wir sind doch alle nur Menschen und versuchen, uns zu verbessern. Außerdem ist es einfach eine gute Chance, selbst etwas dazuzulernen – von einer der besten ihres Faches. Und darauf kommt’s an. Dank meiner CVT-Ausbildung war ich es auch gewohnt, vor Kollegen gecoacht zu werden und an etwas zu arbeiten. Und: Ich war es gewohnt, auf Englisch im Gesangsuniversum zu kommunizieren.

Es sind ja nur rund 20 Minuten, die man da auf der Bühne steht und versucht, fokussiert den Anweisungen zu lauschen, während 200 Augenpaare auf einem ruhen. Aber es war eine tolle Erfahrung. In 20 Minuten kann man nicht alle Punkte abarbeiten, die ich jetzt auf meiner inneren Todo-Liste hatte… Aber es hat sich jedenfalls ausgezahlt, dass ich mich für einen Song aus einem Musical entschieden hatte: „Come Back“ aus dem Stück „Dogfight“, das Erstlingswerk des großartigen Komponistenduos Pasek/Paul. (Hier der Youtube-Link. Derek Klena zeigt vor, wie’s geht… ) Das Lied „killt“ mich einfach jedes Mal. Viele lange, hohe Töne, viele Steigerungen. Ein „Beuschelreißer“, wie es unser Masterclass-Korrepetitor im Konzerthaus, Jürgen Tauber (Vielen Dank nochmal, Jürgen!) bei der Probe es richtig ausgedrückt hat. Und mein persönliches Beuschel war oft schon zur Halbzeit komplett streichfähig.

Also dann, rauf auf die Bühne. Applaus. Kurz vorstellen. Ähm. Ja. Ich hab die langweilige Kurzfassung gegeben. Bin aus Wien. Singe Pop/Rock/Musical. Und dann ging’s schon los. Da „Come Back“ keine allzu lange Nummer ist – knapp drei Minuten – hab ich mich entschieden einmal alles durchzusingen, also nicht nur eine Strophe rauszupicken, an denen wir dann arbeiten. Oft pickt man besser nur einen Teil heraus, um fokussiert an etwas zu arbeiten.

Und der erste Durchlauf war subjektiv großartig. Also technisch nicht perfekt – wenn auch viel besser als am Vorabend… Bühne macht immer etwas mit mir in dieser Richtung. Aber in den Raum zu blicken, den wunderschönen Mozartsaal, die Akustik zu spüren, wie der Saal die Töne trägt – im Gegensatz zu meiner Wohnküche…. Ich war richtig happy, die vielen langen G#5 am Ende waren zwar etwas gequetscht, aber sie waren alle da und hielten. Und der Applaus war schon sehr zustimmend und ermutigend.

Körperhaltung, Alignment – Ein Kampf gegen Schildkröten

Und dann ging’s auch schon los. Erster Fokuspunkt war meine Körperhaltung. Das hätte ich früher vielleicht als ein bisschen „obvious“ oder gar als „nicht notwendig“ erachtet. Aber nachdem ich mich jetzt drei Jahre intensiv mit Vokaltraktsettings auseinandergesetzt habe, interessiere ich mich derzeit sehr für das Größere Ganze. Körperarbeit. Meine Tensions loswerden. Dem Kehlkopf mehr Spielraum und Freiheit geben. Und Anne-Maries erster Tipp war: Bei den hohen Tönen nicht den Kopf und Körper nach vorne zu führen. „Schildkröte“ haben sie mich im Theater im Neukloster eh auch schon oft genannt. Es ist eine meiner Angewohnheiten, die mir wohl bewusst ist, der ich aber zuletzt nicht so viel Bedeutung zugemessen habe. Mein Kopf – und natürlich mein Kinn – wandern bei hohen Tönen gerne nach vor.

Anne-Marie Speed versucht, meinen Kopf in den Griff zu bekommen… (c) Stephan POLZER

Also sollte ich nun bei den hohen, langen Tönen, mein Gewicht auf die Fersen führen und mir vorstellen, ich würde einen Schritt zurück machen, ihn aber nicht ausführen, den Schritt. Und meinen Kopf nach oben ziehen. Über die Wirbelsäule, das Brustbein. „Alignment“ ist ein Stichwort, dass in der Gesangslehrerwelt derzeit sehr „in“ ist. Frei übersetzt: „Ausrichtung“, aber es geht um die Anordnung der Körperteile… wie die Knie über den Füßen, das Becken über den Knien, der Brustkorb, die Schultern über dem Becken, der Kopf zu den Schultern…. liegt. Wie gesagt: ein Bereich, den ich mir noch genauer ansehen will… Und die Auswirkung war tatsächlich spürbar für mich. Es ist mir gleich besser gelungen, die langen Töne zu Beginn im Crescendo zu führen, ohne diese kurze Phase leichter „Heisrigkeit“ im Ton. Der Ton war etwas „freier“.

Das war das eine, an dem wir gearbeitet haben. Das andere – und dafür bin ich Anne-Marie Speed ebenfalls dankbar, weil ich darauf oft zu wenig wert lege, wenn ich selber einen Song erarbeite: die Bedeutung der Konsonanten im Singen von Musicalsongs. Mut zur Hässlichkeit, weniger Singen, mehr Leiden/Lieben/Emotion… Zur Erheiterung des Publikums, hat Anne-Marie sicher fünf Minuten versucht, mir beizubringen, wie ich das „T“ im Wort „Shit“ richtig aussprechen soll… Ich glaub, so ganz hab ich’s immer noch nicht verstanden… 😉 Aber jedenfalls: Wert darauf legen, die Konsonanten für Emotion und Ausdruck nutzen.

Und so gingen 20 Minuten rasch vorüber – ohne, dass ich das Gefühl hatte, mich zu blamieren 🙂 In der anschließenden Pause gab’s auch viel Zuspruch von vielen Kongressteilnehmer*innern, viele der angereisten Experten haben ihren Schwerpunkt in der klassischen Musik übrigens. Zwei Höhepunkte in den Gesprächen danach: Einerseits das von mir als ausgesprochen ehrlich empfundene Kompliment von Maestro Peter Berne, der danach einen Vortrag über Belcanto hielt… also nicht unbedingt im Thema „Musical“ drinnen ist, und gerade deshalb war sein Lob (und seine Freundlichkeit) für mich etwas Besonders. Auch schön war, wie mich eine Grande Dame der österreichischen Gesangslehrer-Szene beim Verlassen des Saales kurz beiseite nahm, um mir ziemlich direkt zu sagen: „Sie haben nur EIN Problem, Ihr Kinn“. So habe ich es zumindest in Erinnerung. „Sie haben nur EIN Problem“. Und dabei nahm sie mein Gesicht mit beiden Händen, mein Kiefer also wie eine Schale – ohne mich zu fragen oder zumindest zu kennen – und erklärte mir, wie ich bei hohen Tönen, mein Unterkiefer nach unten hinten öffnen solle (und überhaupt zuerst hinauf denken beim Öffnen). Als ich etwas perplex versuchte, ihren Erklärungen zwischen Tür und Angel Folge zu leisten, zögerte sie nicht, mir gleich mit dem Zeigefinger prüfend auf die Zähne zu greifen – diesmal nach einem kurzen „Darf ich?“.

Diese Anekdote werde ich noch oft zum Besten geben. Und das meine ich nicht herablassend oder belächelnd – auch wenn’s eine erstaunliche Situation war. Klar präferiere ich vielleicht eine Kommunikation á la „Gut gemacht, aber erlauben Sie, wenn ich Ihnen vielleicht einen Tipp geben darf?“ Aber andererseits: Es war so direkt und aufrichtig und hilfsbereit, dass ich es als wunderbar empfand, mich mit ihr zu unterhalten. Offenbar war es ihr ein wirkliches Anliegen, mir diesen EINEN Stein auf dem Weg zur Singfreiheit zu zeigen, den ich aus dem Weg räumen sollte. Und ich weiß: Sie hat bis zu einem gewissen Grad auch recht. Mein Kinn und Hals tendieren dazu, zu verkrampfen und der Stimme ein wenig Freiheit zu klauen. Also: Werde ich da wohl künftig ein wenig öfter darauf achten.

Zum Schluss noch ein großes Dankeschön an die Organisatoren des Kongresses, dem Bund Österreichischer Gesangspädagogen (EVTA-Austria) – und Anne-Marie Speed, die nicht nur eine toller Vocal Coach und Gesangsexpertin ist – sondern dabei auch noch mit Humor an die Sache herangeht – ohne dabei vom Thema abzulenken. So mag ich das!

So, das war also die ICVT2022 in Wien – bzw mein Tag auf dem Kongress. Der ICVT findet das nächste Mal übrigens in Toronto, Kanada statt. Na, das muss ich mir noch überlegen… 🙂 Aber bis 2025 ist ja noch ein wenig Zeit.

Safer Six (Pop-/Rock-Acapella!) – unser neues Programm „Sound Of Cinema“ ist bald auch in DEINER Nähe!

Sa 27. August, 19.30 Uhr, im Konzerthof der Stadtgemeinde Mödling
Fr 2. September, 20 Uhr, Schloss Katzelsdorf
Fr 23. September, 20 Uhr, Musikerheim Wartmannstetten
Sa 1. Oktober, 19.30 Uhr, KUSAMi Mitterndorf an der Fischa

www.safersix.at

Safer Six – Kinderprogramm: „Auf der Suche nach der Goldenen Note“

Meine Premiere als „Philipp“ im wunderbar musikalisch-humorvollen, rund 70-minütigen Acapella-Kindermusical „Auf der Suche nach der Goldenen Note“ steht bevor, gleich an mehreren Terminen demnächst:

27. August, 16 Uhr, Konzerthof der Stadtgemeinde Mödling
8. Oktober, 16 Uhr im Kulturzentrum Oberschützen
9. Oktober, 14 und 16.30 Uhr im Kulturzentrum Mattersburg

www.safersix.at

Und das mit der Rolle als „Philipp“ ist natürlich ein Schmäh, steht zwar im Textbuch, aber natürlich werde ich die Rolle komplett neu anlegen, mit dem kreativen Namen „Klemens“.

Veröffentlicht von Klemens Patek | vocalfriday

Vocal Coach | Sänger - Frage drei Gesangslehrer und du bekommst vier Antworten. Hier bekommst du die fünfte ;) Bei mir geht's ums Singen, um Gesangstechnik, um CVT (Complete Vocal Technique) und Themen wie Achtsamkeit, Selbstvertrauen und Künstlersein. Bin gespannt, wohin mich die Reise führt. Das wichtigste für mich: Respekt und freundschaftlicher Austausch. Bashing anderer Künstler oder Coaches liegt mir fern. Mein Motto: Richtig ist, was dem/der Sänger*in gut tut und konkret weiterhift!

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