#68 Was ist „der Übergang“? Eine Übung.

Ein frohes neues Jahr, falls ihr das im Jänner 2023 lest. Aber selbst wenn ihr zufällig auf diesen Blog stößt: ein paar Glückwünsche zwischendurch können ja nicht schaden. Heute geht’s (wieder einmal) um eines meiner Lieblingsthemen. Einfach weil oft relevant. Der liebe „Übergang“, wie wir auf Deutsch gerne sagen. Übergang, von was zu was, fragst du? Wovon wohin, würde meine Mum mich lächelend korrigieren… Von M1 zu M2, von Kopf- zu Bruststimme, von engaged zu non-engaged singing, von Vollstimme zu Randstimme. Ihr seht, das Vokabular ist endlos, meint aber immer dasselbe. Und so sehr wir manchmal über die anatomische und akustischen Eckdaten von Bruststimme streiten, so sind wir uns doch meistens einig, wenn’s darum geht, zu checken, ob wir in Kopfstimme sind. Meistens…

Sonnenbrille auf und los geht’s mit dem Üben. Sorry, unpassendes Selbstdarstellerfoto… Haha. Passt vielleicht zum ungeziemlichen Wort in der Überschrift… Damals bei „Die Letzten 5 Jahre“ als Jamie Wellerstein. Auch schon fünf Jahre her. (c) Roman Kornfeld

Kopfstimme bzw. Übergang finden wir eigentlich recht rasch so:

  • Sing einen hohen Ton. Am besten funktioniert das mit dem „wooo“ wie bei einem Applaus im Theater oder wie eben die „Woo-Girls“… (HIMYM-Fans, ihr wisst, was ich meine). Also bitte: einmal hoch woooen.
  • Super. Jetzt nochmal und slide dann mit dem Ton hinunter. Also werde laaaangsam immer tiefer.
  • Irgendwann wird (vermutlich) etwas passieren: Du flippst in die Bruststimme. Zuvor versuche aber, das „Woo“-Gefühl so lange wie möglich aufrechtzuerhalten. Bleib also in der Kopfstimme. Das bedeutet, dass deine Stimme vermutlich immer mehr Troubles haben wird, das System zu tragen – und schwächer wird. Aber iiirgendwann wirst du nicht vermeiden können, dass deine Stimme (mit oder ohne Kiekser) in die Bruststimme flippt. Zumindest den meisten wird es so gehen.

Und heute wollen wir da mal ein bisserl herumexperimentieren, uns in genau in diesem Bereich, da wo deine Kopfstimme „von oben kommend“ immer schwächer wird, ein bisserl ausbreiten. Denn, was vielleicht auch das Wort „Register“ ein bisserl verwirrend macht, es gibt einen gar nicht so großen Anteil in unserer Range (=unser persönlicher Tonumfang), in der wir die freie Wahl haben: Kopf- oder Bruststimme. Je höher, desto schwieriger oder technisch präziser/flexibler müssen wir unsere Bruststimme einsetzen; je tiefer, desto schwächer wird unsere Kopfstimme klingen bzw. desto mehr Übung braucht es da. Aber in der Mitte funktioniert beides. Und wir suchen uns heute genau den Bereich. Männer*, bei euch könnte das das C4/D4* sein. Frauen*, bei euch so zwischen F4 und A4.

Es geht einerseits darum, dir zu zeigen, dass man die Wahl hat, andererseits kann man damit eine gute Flexibilität trainieren, um zwischen den beiden Welten unauffällig hin- und herzusingen, wie es zum Beispiel im Musicaltheater oft erforderlich ist (für Frauen*). Aber auch Männer profitieren davon, wenn sie ihr Falsett smooth in die Bruststimme gleiten lassen können. (Sorry, für mich heißt’s bei Männern* immer noch Falsett… ich meine aber tatsächlich denselben Mechanismus… also Kopfstimme. Reine Gewohnheit)

Jeder Mechanismus präferiert einen anders geformten Vokaltrakt, um ihn stabil zu halten. Klingt kompliziert, meint nichts anderes als das Phänomen, dass uns ein „eh“ wie im Wort „Es“ in der Bruststimme, wenn’s eng (höher) wird, eher gelingt, als ein „u“ wie in Uhu. Und für die Kopfstimme ist es umgekehrt. Somit sind Vokale unsere einfachsten Helfer hier vorerst. Für Kopfstimme: „u“, für Bruststimme „eh“.

Ready für ein bisserl Singen?

  1. Glissando von oben auf Vokal „uh“ nach unten auf den Zielton (wie gesagt, bei Frauen* etwa das F4, bei Männern* das D4). Gerade in der Tiefe: viel Stütze, Luft eher zurückhaltend denken, Kinn locker, eher „gähnig“, also hohes Gaumensegel, „rund“ denken. Wiederholen 🙂 Immer in Kopfstimme bleiben.
  2. Glissando von unten auf „eh“, also von der Tiefe der Range hinauf zum Zielton. Je höher, desto mehr Support, sich trauen laut zu sein, die oberen Zähne zeigen, lächeln, „breit denken“. Wiederholen. Immer in Bruststimme bleiben.

Schritt 1 und 2 soweit klar? Falls dir das zu hoch/zu tief für einen der beiden Mechanismen ist, ändere den Zielton, sodass du beide Varianten safe ausführen kannst. Wenn du keinen Ton findest, auf dem beides klappt – no worries. Dann können wir immer noch mit Intervallen arbeiten. Aber dazu ein ander mal.

Jetzt probier‘ mal umgekehrt:

3. Starte mit dem „u“ in Kopfstimme auf dem verhältnismäßig tiefen „Zielton“ und werde höher – immer noch alles in Kopfstimme.

4. Starte mit dem „eh“ in Bruststimme auf dem verhältnismäßig hohen Zielton und werde tiefer – alles in Bruststimme.

Super, jetzt haben wir sozusagen einmal beide Seiten geklärt. Jetzt geht’s ans Verbinden.

5. Wir sliden von ganz tief bis ganz hoch. Also startend auf Bruststimme auf „eh“ bis zum Zielton. Dann kurz absetzen und auf „uh“ in Kopfstimme neu ansetzen und nach oben gehen. Immer noch klar das eine vom anderen trennen.

6. Jetzt gehen wir nur auf den gewählten Übergangston, auf dem ja schon gesehen hast, dass beide Mechanismen funktionieren. Versuche die beiden Vokale mit Absetzen abwechselnd in den beiden Mechanismen zu singen. Eh – Uh – Eh – Uh….. Erinnere dich an evtl. den unterschiedlichen Effort, den die einzelnen Mechanismen dich kosten. Versuche erst, die Sounds möglichst unterschiedlich zu machen und evtl. (wenn du kannst) einander anzunähern.

6b 😉 Wenn du mutig bist und dich sicher fühlst, kannst du auch die Vokale wechseln. Achtung, nicht so easy. Also das Eh in Kopfstimme und das Uh in Bruststimme abwechseln. Aber selbst die*der geübteste Sänger:in wird merken, dass das deutlich schwieriger ist. Oder?

7) Auf EINEM Ton (unserem vorher ausgewählten Zielton), die Vokale OHNE Absetzen aneinanderreihen. Von Eh in Bruststimme zu Uh in Kopfstimme – und wieder retour. Bzw. umgekehrt. Die Lautstärke ist dabei eine gute Helferin. Vom Eh um Uh kannst du ein massives Decrescendo einstreuen, soll heißen: Fang relativ laut an und reduziere die Lautstärke nach und nach, während du gleichzeitig den Vokal vom EH zum Uh formst.

EH_________UH_________EH
>>>>>>>>>>><<<<<<<<<<
(ff) (pp) (ff)

Bzw, umgekehrt, am UH leise starten und ein Crescendo zum EH und retour.

Tipp1: Die Lautstärke und den Vokal wirklich in Meeeegazeitlupe ändern! (Denk: Dori aus „Findet Nemo“)
Tipp2: Wenn du spürst, der Ton wird in Kürze von einem in den anderen Mechanismus flippen, kann ein bisserl zusätzliches Feeling von „Weinen“, also minimale Gaumensegelbewegung oder auch „Raunzen“, dass du den Ton eher in der Nase spürst, helfen.

8) Wenn du das beherrschst. Dann kannst du versuchen, die beiden Glissandi zusammenbauen und am Übergangston (den wir zu Beginn einmal festgelegt haben, der aber auch höher und tiefer sein kann natürlich) dann ohne Tonflip von einem Mechanismus in den anderen zu wechseln.

eh________________eh>uh______________________
(Bruststimme, eher laut), (Kopfstimme, eher leise)

Das mit den Lautstärken ist nur ein Tipp für den Anfang. Das Ziel der Übung wird es sein, dass die Lautstärke am Übergang KEINEN deutlichen Wechsel macht… denn sonst währen wir erst recht beim Jodeln.

Eher früh loslassen beim Glissando von unten

9) Endausbaustufe: Ein Glissando, auf dem du nicht auf einem spezifischen Ton stehen bleibst für den Übergang, sondern das während des Tonslides „erledigst“. Mag vielleicht für manche sogar leichter sein, wenn man weniger auf einem bestimmten Ton denken und tun muss und den Ton einfach mal machen lässt. Auch hier der Tipp: eher früher wechseln, als zu spät, wenn du ein Glissando von unten singst. Im Idealfall gibts vielleicht einen Tonabschnitt, in dem du gar nicht sagen könntest, ob das jetzt das eine oder das andere ist. Aber da sind alle Sänger*innen recht individuell. Ich kenne auch Singende, die es schwer finden, den Bruch, den Kiekser, den Übergang zu replizieren, weil sie es so gewohnt sind und nie hinterfragt haben, dass da irgendwo ein Mechanismen-Übergang ist.

Soweit so kompliziert? Kopfstimme und Bruststimme sind wie gesagt zwei Mechanismen auf Stimmbandebene. Wenn ich sage „Bruststimme“, hat das nicht automatisch etwas mit dem Klang, dem Vibe, der Lautstärke zu tun. Das kommt dann zusätzlich durch Klangfarbe und Vokaltraktform und selbst auf Stimmbandebene gibt’s noch einiges, das den Klang beeinflusst, du hast die Wahl. Wer damit struggelt, das eine vom anderen zu unterscheiden oder erst zu finden, möge eben ins Extrem gehen, also laute Bruststimme und leisere Kopfstimme. Wer damit keine Probleme hat – der möge die Lautstärke schon früh eher gleichmäßig gestalten und mit dem Blending beginnen. Möge, möge, Blumentröge. Der ist von mir, der Spruch. Grad erfunden. Glaubt ihr nicht, ich weiß. 🙂

Viel Spaß beim Experimentieren. Und: Vertraut eurem Instinkt. Tut nichts, was sich nicht gut anfühlt. Dann lieber etwas am Trainingsplan, an der Übung ändern, die Übung leichter machen, sodass ihr euer Ziel auch wirklich erreichen könnt. Habt eine schöne Woche!

*Das Sternderl bei Geschlechtern macht mich insofern unglücklich, als dass ich noch keine inklusiveren Ausdrücke dafür gefunden habe, als dass es auch Frauen gibt, deren Stimme im Stimmbruch waren. Und Männer, die vielleicht nicht den Stimmbruch durchlebt haben. Dazu habe ich zum Beispiel hier einen Blogeintrag geschrieben: #58 Singen und Gendern

*Ich verwende mittlerweile ausschließlich das etablierte angloamerikanische System mit Zahlen zur Notenfindung. Irgendwie gibt’s da weniger Missverständnisse… C4 ist das „mittlere C“, das im deutschen Sprachraum auch als „eingestrichenes C“ bezeichnet wird. Das deutsche “ c“ “ (zweigestrichenes C) ist somit das C5. Klar soweit…?

Premiere in vielerlei Hinsicht: DER SCHATTEN

Hier noch Werbung für ein spannendes Projekt im Theater im Neukloster, an dem ich so gaaaar nicht beteiligt bin. Ein Sprechstück braucht keinen musikalischen Leiter… Aber es sind großartige Schauspieler am Werk, die die Bühnenadaption von Nico Dorigatti umsetzen. Nico wird auch Regie führen. Das wird sicher super. Ich werd’s mir natürlich ansehen. Schaut doch auch vorbei!

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Veröffentlicht von Klemens Patek | vocalfriday

Vocal Coach | Sänger - Frage drei Gesangslehrer und du bekommst vier Antworten. Hier bekommst du die fünfte ;) Bei mir geht's ums Singen, um Gesangstechnik, um CVT (Complete Vocal Technique) und Themen wie Achtsamkeit, Selbstvertrauen und Künstlersein. Bin gespannt, wohin mich die Reise führt. Das wichtigste für mich: Respekt und freundschaftlicher Austausch. Bashing anderer Künstler oder Coaches liegt mir fern. Mein Motto: Richtig ist, was dem/der Sänger*in gut tut und konkret weiterhift!

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