Okay, du willst einen Song intensiver singen – oder einfach anders als das Original? Du willst im dritten Refrain die Melodie dir zu eigen machen, ein anderes Phrasing, andere Linien, einen „Burst of Emotion“ in Musik und Gesang umsetzen? Prinzipiell sind Interpretation bzw. Variation und Improvisation schon unterschiedliche Dinge, die man in einer Bachelorarbeit wohl Kapitel für Kapitel theoretisch definieren müsste. Aaaaber Gott sei Dank ist ein Blog keine Bachelorarbeit, also hauen wir heute einfach mal alles wild durcheinander. Denn je nach Wunsch und Situation greift doch das eine in das andere, kann das eine das andere unterstützen und stärken. Das eine kann zum anderen führen und umgekehrt. Bereit? Welchen Song wolltest du schon immer anders singen oder anders interpretieren?

Interpretation beschreibt das WIE wir ein Lied singen. Aber dieses WIE führt uns bereits in zwei Richtungen… Auf die Frage „Wie willst du das Lied singen?“ gibt’s Hunderte mögliche Antworten: Schneller, schöner, mit mehr Gefühl, mit einem bestimmten Gefühl, mit einem bestimmten Mode (CVT-Mode), mit einem Effekt, mit mehr Dynamik, leiser, mehr oder weniger Artikulation etc., etc. Wobei es dann vordergründig meistens eher auf die Gefühlsebene geht, wie ich dieses Lied, diesen Text interpretiere.
Doch im Detail bringen uns die Gefühlsfragen dann durchaus auch zu technischen Fragen. Klar, wenn ich mir vornehme, eine Szenerie nachzumalen mit der Stimme, eine Gefühlswelt nachzubilden und ich kann das „einfach so“ machen und mich in den Song fallen lassen – gut! Wie immer gilt: Wenn’s passt, dann müssen wir nicht zum Grübeln beginnen. Vielleicht ist es aber so, dass wir das Lied, dessen Interpretation uns einmal spontan nach drei Bier beim Gig so geil gelungen ist, jetzt auf Tour, in einer längeren Produktion, immer und immer wieder singen müssen? Immer wird man nicht „voll im Song“ sein können. Immer kann man aus eigenen Gefühlen schöpfen und das eigene – hoffentliche vergangene – Liebesleid oder Trauer anzapfen. Dann braucht es eine andere Strategie.
Was außerdem, wenn das Ergebnis meiner gefühlten Veränderung der Interpretation sich nur minimal von dem unterscheidet, von dem wir ausgegangen sind. Wenn man also die Emotion (bzw neue Emotion) nur wenig wahrnehmen kann.
In beiden Fällen kann es dann hilfreich sein, sich die Frage zu stellen, wie unsere Emotion denn klingen könnte? Also konkret. Wie klingt „traurig“? Das sind natürlich Schablonen, Klischees – aber kann ein Anfang sein. Also „traurig“: Ich würde spontan mal sagen: dunklere Klangfarbe (evtl. tieferer Kehlkopf bzw. höheres Gaumensegel), vielleicht eher legato (Töne eher verbunden als kurz und jumpy), vielleicht mit einzelnen Creekings und dezenten Effekten (Schluchzer), viele Vokale, weniger intensive Konsonanten. Das war jetzt mal so dahingeschrieben, aber vielleicht kann das eine oder andere dazu führen, dass unsere Emotion deutlicher zum Ausdruck gebracht werden. Dass sich unser Sound stärker und merkbar verändert. Andersherum, wenn ich eine erfolgreiche Interpretation schon einmal gemacht habe, lohnt sich die Frage: Was habe ich gemacht? Welche Phrasings waren gelungen und haben die Emotion unterstrichen? Wie war der Aufbau?
Insofern kann die Kontrolle unserer Stimme und all die Techniken und Klänge, an denen wir arbeiten, auch immer Teil der Arbeit an der Interpretation sein. Wie gesagt, vor allem dann, wenn es nicht ganz so flüssig läuft oder quasi „von alleine“.
Variation als Start der Improvisation
Was uns wiederum zur Variation bzw. Improvisation bringt. Die wiederum zur Interpretation beitragen kann. Variation, also das Andersgestalten von ähnlichen Melodien oder Grooves an verschiedenen Stellen in einem Lied, kann ein Schritt zu einer eigenen Interpretation sein. Einfach ausgedrückt: Dass ich den Refrain nicht immer gleich singe. Dass ich mit der Dynamik, aber auch der Melodie selbst, Veränderung und Ausdruck in den Song bringe. Ich führe die Melodie zum Beispiel nicht von unten in den Refrain, sondern von oben. Ooooder, ich lasse die 1 im Takt frei und komme mit dem Text ein bisserl knackiger, weil „gestresster“ in den Refrain, verdichte die Phrase dadurch. Eine einfache Art der Variation wäre zum Beispiel auch den ersten Refrain in einem Popsong eine Oktave tiefer zu singen, oder noch viel mit Neutral-Klängen spielen, während im zweiten und dritten dann Vollgas gegeben wird und metallische Sounds dazukommen.
Und da wiederum kann uns Improvisation helfen, eine schöne Variation zu finden. Ich kenne so viele Sänger:innen, die sich gegen Improvisation sträuben. Und ich versteh’s. Es ist nicht easy, wenn einem gefühlt sozusagen „alles“ genommen wird, Text, Melodie, Rhythmus. Nur die Musikbegleitung bleibt, und der Rest: mach mal! Wem’s ähnlich geht: Lasst euch doch ein paar Hilfen, nehmt euch nicht jeglichen Halt im Lied. Hier ein paar Tricks bzw. Übungen für’s Improvisieren einer Melodie:
- Lass eine bestimmte Taktzeit immer frei. Sing die Melodie des Refrains (beispielsweise), aber auf der „3“ (zB) darf keine Silbe zu hören sein. Das funktioniert meist recht effektiv mit der „1“. Die Eins IMMER freilassen. Später kann man ja sagen: Okay, bei der Phrase ergibt das was Spannendes, bei anderen isses nur ein Stolperstein. Aber einfach ausprobieren. Bei „Alle Meine Entchen“ betrifft das also das „Al“, zwei Mal das „Schwi“, das „Köpf“ und das „Schwän“. Das muss ich, wenn ich die Eins also freilassen will immer etwas später oder früher singen. Gibt dem Lied natürlich gleich eine völlig neue Interpretation 🙂
- Mach aus allen Viertelnoten eine Achtel. Oder aus allen Halbenoten eine Viertel… Das „stresst“ genau so, macht die Aufgabe der Improvisation aber zu einer Herausforderung mit klaren Regeln.
- Der erste Ton im Takt muss immer der Grundton sein (die Terz, die Quint, die Non…). Pick one. Oder ähnlich: Jede Phrase (jeder neue Satz) soll mit dem selben Tonbeginnen.
- Du versuchst die Melodie „genau andersrum zu singen“. Was in der Linie „hoch geht“ wird bei dir in die Tiefe gesungen, etc. Das braucht aber vielleicht schon etwas mehr Mut.
- Apropos Mut, bildlicher sind Improvisations bzw. Variationsversuche, die sich etwa ein Instrument zum Vorbild nehmen. Sei eine Trompete. Damit meine ich nicht Scatten (also „dudap, badadp“, das of Trompeten nachempfunden ist), sondern als Variationstool für einen Refrain. Also könnten die Töne schärfer, rhythmisch präsenter, tighter, mehr im Wechsel Staccato/Legato sein… Was auch imemr deine Fantasie hergibt…
Bei allen diesen Variationen: Lass dich ruhig treiben. Ich weiß, das ist die schwerste Aufgabe, ich meine das im Sinne von: Wenn die Eins immer frei bleibt und du danach struggelst, den Text wieder „einzufangen“ und „unterzubekommen“, mach einfach mal. Auch wenn die nächste 1 dann vielleicht nicht frei bleibt… Lass es geschehen 🙂
Und ja, wenn dir dabei was gefällt, mach’s nochmal, nimm’s auf. Und überleg, wo du das einbauen könntest. Und was es mit deinem Lied macht?
Wir können also mit Technik spielen, bzw. mit Klang. Aber auch mit Variation und Improvisation. Insgesamt führt uns das zu einer neuen Interpretation.
Am Anfang ruhig noch ein Schäuflein drauflegen
Lasst euch nur nicht abschrecken, dass ihr exakt nicht wisst, was zu tun ist. Probiert eine der Übungen aus. Schaut, was es mit euch macht. Experimentiert mit euren Sounds, welche Sounds (luftig, twangy, dunkel, hell, …) eure Interpretation unterstreichen, sich einfach gut anhören und -fühlen. Traut euch, etwas zu ändern. Klar, kann man alles übertreiben… Alles mit Augenmaß. Aber: erfahrungsgemäß darf man ruhig ein Schäuferl übertreiben im Ausdruck. Was einem selbst als ur arger Klang oder ur extreme Änderung vorkommt, ist für Zuhörende manchmal nur eine dezente Variation. Gerade im Proberaum oder im Wohnzimmer daheim oder in der Gesangssession hat man die Chance einfach mal auszuprobieren.
In diesem Sinne: Interpretation kann man schon runterbrechen und auch üben. Aber da gibt’s natürlich auch noch sehr viel mehr auszuprobieren – eher auf der Storytelling-Ebene. Dazu vielleicht ein ander mal mehr. Traut euch!
Habt eine schöne Woche!
Premiere in vielerlei Hinsicht: DER SCHATTEN
Hier noch Werbung für ein spannendes Projekt im Theater im Neukloster, an dem ich so gaaaar nicht beteiligt bin. Ein Sprechstück braucht keinen musikalischen Leiter… Aber es sind großartige Schauspieler am Werk, die die Bühnenadaption von Nico Dorigatti umsetzen. Nico wird auch Regie führen. Das wird sicher super. Ich werd’s mir natürlich ansehen. Schaut doch auch vorbei!
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