Vor zwei Wochen haben wir an dieser Stelle ja über die drei Grundprinzipien für’s Singen diskutiert – also wie sie zumindest die Complete Vocal Technique definiert. Grundprinzipien. Also, Dinge, die wir beim Singen immer beachten sollten. Aber wer in seinem oder ihren Leben ein bisserl Erfahrung mit Singen gemacht hat, wird rasch merken: Ein und dieselbe Tonhöhe kann sich an unterschiedlichen Stellen im Lied total unterschiedlich anfühlen. Warum ist das so – und warum könnten die CVT-Modes da ein Ausgangspunkt sein, sich das Leben einfacher zu machen?
Plakatives Beispiel eins. Ein Ton soll – wegen Interpretation/Aufbau – im ersten Refrain in Kopfstimme gesungen werden, im zweiten Refrain dann (wenn Drums und Bass schon ordentlich Druck machen) aber in Bruststimme. Zwei völlig verschiedene Register also, verschiedene Mechanismen, verschiedene Intensitäten. Und doch derselbe Ton. Derselbe Ton wird sich so komplett anders anfühlen. Einmal vielleicht easy-peasy, hohl, dumpf, ohne jeglichen Gedanken an Stütze, das andere Mal vielleicht heavy, kratzig, mit „Kabeln“ am Hals – ergo hohe Intensität (zu hohe… ähem :))
Anderes Beispiel: Der geübte Chor-Tenor findet die Not F4 (f‘) in einem Gospel-Lied auf dem Vokal „Eh“ super-easy, auf einem „Uh“ aber sehr anstrengend und der Ton tendiert dazu zu flippen, also ins Falsett zu kippen. Soll die Uh-Stelle besonders leise sein, verschärft sich das Problem vielleicht noch.

Wissen, was ist! Wissen, was geht!
Singen ist eben manchmal nicht so einfach. Was sind die Faktoren, die einen Ton subjektiv erleichtern/erschweren können:
- Vokal
- Tonhöhe
- Lautstärke (Dynamik)
- Der Mechanismus, in dem der Ton gesungen werden soll (Kopfstimme/Bruststimme, CVT-Modes, etc…)
- Der Weg zum Ton: Wie ist die Phrase davor, kommt sie von unten, ist es eine Steigerung? Oder ist der Ton gleich der erste in einer Phrase?
- Konsonanten! Welche P und T und R und „Str“ oder „Pfr“ muss ich absolvieren, bevor ich überhaupt erst einmal am Vokal ankomme…
Die von mir hier beschriebenen Punkte sind ein bisserl Kraut und Rüben. Manche stehen in der Partitur (sind also vorgegeben), manche sind subjektiv zu wählen – oder werden von Chorleiterin, musikalischer Leiterin, von dir als Sänger:in selbst so gewünscht.
Das Gute – und auf den ersten Blick vielleicht etwas Komplizierte: Jede Tonhöhe, jeder Vokal hat in Kombination mit dem gewünschten Klang andere Regeln. (Und nicht jede Regel fühlt sich für jede:n Sänger gleich wichtig an.) Wenn ich jetzt als Vocal Coach manchen Sänger:innen vielleicht einzelne Tipps für einzelne Stellen an den Kopf werfe, macht es vielleicht Sinn, sich das ganze System ein bisserl zu Gemüte zu führen, damit sich die Sänger:innen selbst helfen können.
Und da sind wir wieder bei einem der Vorteile von CVT. Es ist ein System zum Anhalten – und das in seinen Grundzügen rasch begriffen und umgesetzt werden kann. (Und eines, das großteils eben funktioniert). Wer sein Leben lang nur in Kopfstimme singt, muss sich andere Settings und Intensitäten erst erarbeiten – und umgekehrt. Und wer sich diese Arbeit des Neuentdecken der Möglichkeiten der Stimme antut, wird mir wohl bestätigen: Das jeweils Neue fühlt sich anders an als man „Singen“ bisher gespürt hat. Alles eine Frage der Perspektive.
Die Modes bieten Regeln. Regeln bieten Orientierung. Das heißt nicht, dass ich jeden Ton überanalysieren muss!
Diese vielen verschiedenen Settings und Möglichkeiten zu benennen und in Kategorien einzuteilen, kann man natürlich auf viele verschiedene Arten machen. Das Schöne an CVT ist, es gibt für den Anfang mal vier Modes – also vier Settings. Wobei ich da noch Falsett als eine Art fünftes Grundsetting mitnehmen würde. Wenn ich lerne, mich innerhalb der vier Modes plus Falsett/Kopfstimme sicher zu bewegen – und Mode für Mode meine Range ausbaue, stehen mir alle Möglichkeiten offen. Und nicht jeder Mode wird jedem und jeder Sänger:in gleich gut liegen. Man sieht rasch, wo man noch Bedarf hat und wo nicht, lernt aber auch rasch, Töne einschätzen zu können, mit welchen Modes man sie angehen kann, will und soll. Die Regeln geben Orientierung.
Manche sehen in den Modes ein Verkomplizieren. Klar kann ich auch „nur“ die Mechanismen Brust- und Kopfstimme/Falsett anfangs heranziehen. Oder auch diese beiden nicht einmal trennen. Ich kann mich auf Stütze und Stimmbandschluss fokussieren – auf jedes einzelne Element im Vokaltrakt. Fokus setzen macht Sinn. Ich empfinde vier Modes als guten Kompromiss. Jeder Mode steht für einen Klang, ein Vokaltraktsetting und Regeln. Das gibt Orientierung. Etwa warum sich eben derselbe Ton einmal komisch anfühlt und zu kippen droht (auf „u“ evtl.) und in einem anderen Wort nicht – wenn der Vokal zum Mode zufällig passt, den ich dort vielleicht unbewusst singe – oder in dem ich ohnehin immer singe.
CVT hat diese Regeln natürlich nicht für sich gepachtet bzw. nicht alle selbst „erfunden“
Dieselben (oder viele) Regeln gibt es natürlich auch außerhalb von CVT. Welche Vokale für welchen Sound gut sind, weniger gut sind. Die einfachsten Beispiele sind immer: Vokale wie „uh“ oder „ih“ sind für viele schwieriger zu singen in der Bruststimme, funktionieren aber perfekt in der Kopfstimme. Wenn’r rockig wird, können wir uns am „eh“ und „oh“ und „äh“ orientieren. Aber ich finde, CVT gibt einem rasche Orientierung im Klangangebot.
Jetzt habe ich länger über CVT schwadroniert, als ursprünglich geplant. Eigentlich wollte ich darauf hinaus, was ich immer wieder faszinierend finde…: Das, was wir ÜBER den Stimmbändern machen im Vokaltrakt – von Kehlkopfdeckel bis zu den Lippen -, hat unmittelbare Auswirkungen darauf, was sich unmittelbar an den Stimmbändern tut. Und umgekehrt. Forme ich also mit meinem Vokaltrakt ein „Eh“, hilft das meinen Stimmbändern dabei, ein dickeres Setup zu halten, also ein sprechigeres, lauteres, kräftigeres Setup. Das hat mit akustischen Regeln zu tun. Klar kann ich wählen, wie ich meine Stimmbänder einsetzen will, welchen Mechanismus und Mode ich wähle: Aber die Vokale und Lautstärken machen diesen Plan womöglich unnötig schwer. Es geht darum, die richtigen zu wählen, um den Stimmbändern zu ermöglichen, im Wunschsound zu bleiben. Es ist eine gegenseitige Beeinflussung zwischen Stimmbändern (Primärklang) und Vokaltrakt. Deswegen kann eine Miniänderung der Zungenposition auch dazu führen, dass sich Töne plötzlich super-easy anfühlen.
Bezogen auf CVT – aber auch generell – gilt: Du musst nicht jeden Ton analysieren. Du kannst auch einfach singen. Aber wenn ein Ton nicht klappt, tust du dir leichter in der Fehleranalyse, wenn du ein paar Grundregeln kennst. Das kann jetzt eines der Grundprinzipien sein, das du dir nochmal zu Herzen nimmst. Oder du kannst deine vier Modes durchprobieren – je nachdem welche Klangvorstellung du hast. Du kannst anhand der Regeln und der Vokale auf dein Ziel hinarbeiten. Und anfangs hilft es, sich jeden Mode einzeln herzunehmen und zu üben: Erst auf einzelnen Tönen, dann auf Skalen von drei, dann von fünf und acht Tönen. Mit allen Vokalen, die diesen Mode gut tragen. Dann wird es mir leichter fallen, den Klang auch im Song einfach umzusetzen!
