#70 #SchlagerBritney: Wie baue ich eine Stimme nach?

Unlängst hab ich bei der Taufe der Tochter von guten Freunden gesungen und da stand auch eine Nummer von Michelle auf dem Programm. Kennt ihr nicht? Pah, habt ihr nicht die Schlagersendungen der 90er- und 00er-Jahre gesehen? Nein? Michelle war (bzw. ist) eine der erfolgreichsten deutschsprachigen Schlagersängerinnen. Das war, als Schlager noch so richtig Schlager war und nicht so viel in Richtung Mainstream geschielt hat. Bevor Helene Fischer diese Barriere dann durchbrochen hat (und auch das nicht so ganz). Also Michelle. War mir ein Begriff, aber ehrlich gesagt, ich hatte ihre Stimme überhaupt nicht im Ohr. (Sie war übrigens 2016 und 2017 Jurorin bei „Deutschland sucht den Superstar“, aber ich weiß, das hilft eurer Erinnerung jetzt auch nicht auf die Sprünge…) Und dann hab ich mir das Youtube-Video von „Kleine Prinzessin“ reingezogen. Und dann hab ich mal schön gegrinst, die drei Minuten lang. Einfach, weil ich die Stimme sehr speziell finde. Der Hashtag #SchlagerBritney ist mir jedenfalls nicht umsonst eingefallen… Aber hört mal rein, wenn ihr Zeit habt, hier eine Live-Version, die auch tatsächlich live ist 😉 :

Gut, jetzt beim Durchhören der Live-Version (yes, tatsächlich live… Sekunde 44… ) relativiert sich der Britneyfaktor wieder ein bisserl. Aber ich finde den Vergleich immer noch passend. Sie macht zwar nicht ständig die berühmten Britney-Vocalfrys (Creaks) zu Beginn ihrer Phrasen, aber sie singt genauso (Privatmeinung: absurd) kindlich. Es ist für meine Ohren fast eine klischeehafte Version eines Kinderstimmklangs.

Einschub zur Klarstellung: Eine Analyse des Klanges soll nicht wertend sein. Es geht lediglich darum, was wir hören und wie wir es in Technik-Begriffe ummünzen können, um den Klang – falls gewünscht – so gut wie möglich nachahmen können.

Ein Kinderklang, der nicht nur im Schlager immer wieder zu hören ist. Ansatzweise ja auch bei Helene Fischer, aber auch bei sooo vielen anderen Sängerinnen. Auch im Musical ist das eine beliebte Charakterstimme, die zum Beispiel Kristin Chenoweth perfektioniert hat. (Die Original-Glinda in „Wicked, bzw. vielleicht kennt ihr Jüngeren sie ja aus „Glee“ als April Rhodes).

Aber zurück zu Michelle und der „Kleinen Prinzessin“. Gehen wir diesmal nach den Tools der Complete Vocal Technique vor. Das ist natürlich hier mein Go-to. Macht’s im Blog aber manchmal komplizierter, wenn ich manche Begriffe erklären muss… haha. Aber gut, also, worum geht’s: Wir versuchen folgende Dinge zu erlauschen:

  1. Mode: Also, welches (der in CVT vordefinierten vier) Grundsettings (auf Stimmbandebene) verwendet Michelle. Neutral, Curbing, Overdrive oder Edge. Das ist natürlich auch für Nicht-CVT-ler möglich, im Sinne von: Welchen Sound hört ihr? Hauptsache ihr wisst, wie ihr den Klang selbst (gesund) erzeugen – bzw. anderen beibringen könnt. Wie ihr das nennt, ist dann quasi egal. „Rufqualität“, oder „Kopfstimme“ oder „Thin“ oder „Speech“ was auch immer… (Die letzten beiden waren jetzt aus dem Estill-Voice-Training geklaut) Das ist dann nicht ganz mit den CVT-Modes vergleichbar, aber nur, damit ihr vielleicht ein bisserl nachvollziehen könnt, was ich evtl. mit Mode meine. Noch eine wichtige Anmerkung: Selten singt jemand ein Lied in EINEM Mode, geschweige denn eine Phrase… Umso wichtiger ist es, in Tendenzen zu analysieren, also in der Strophe „eher“ xy… Ins Detail kann man dann immer noch gehen bei Bedarf.
    Lesetipp: #57 Vier Modes? Was zum Curbing…!?
  2. Klangfarbe: Wie hell/dunkel klingt und singt Michelle? Wie viel Effort legt sie darauf (oder klingt sie auch beim Sprechen so?) – und an welchen Stellen im Vokaltrakt modifiziert sie den Klang. Da hätten wir grob zur Auswahl: Kehlkopfhöhe, Twang (Kehlkopftrichter), Nasalität (Nasengang), Gaumensegel, Zungenform und -position, Mundöffnung. Nicht jedes Element davon erzielt gleich viel Wirkung in der Klangfarbe, aber das sind die Punkte, auf die man achten kann.
  3. Effekte: Das müssen nicht nur „Extrem-Effekte“ wie Distortion und Grunt sein. Nein, wo singt Michelle etwa behaucht oder mit einem Creak als Ansatz (á la Britney). Wo setzt sie Vibrato ein – und welches Vibrato benutzt sie?
  4. Sonstiges: Das ist jetzt nicht unbedingt CVT-Lehrbuch, aber falls man in Richtung Imitation geht, können auch der exakte Vokalklang bzw. sonstige sprachliche Eigenheiten relevant sein. Oder andere Gewohnheiten wie Töne anschleifen, harter/weicher Ansatz, Deutlichkeit von Konsonanten … und was auch sonst noch so auffällt. Aber im Grunde sammeln wir mit den Punkten 1 bis 3 genug Informationen fürs Erste.

Warum ich das so ausführlich getan habe? Weil ich’s faszinierend finde, dass man eine Stimme doch in relativ wenigen Punkten grob beschreiben kann. Und hinter jedem kleinen Wort dann doch wieder jahrelange Übung und Wissen steckt.

Also, Michelle, „Kleine Prinzessin“, gehen wir’s Punkt für Punkt durch. Ui, aber einen sehr wichtigen Einschub hab ich noch: Meine Analyse hat keinen Anspruch auf Vollständigkeit oder gar Richtigkeit… Natürlich beschreibe ich das, was ICH höre… Heißt aber nicht, dass es tatsächlich so ist. Soll auch heißen, wenn ich jetzt tatsächlich mit jemandem am Michelle-Sound arbeiten würde, hätte ich ja auch die Möglichkeit, am Sound zu schrauben, nach dem Motto: Probier mal den Mode und jetzt den anderen…. Welcher klingt hier eher wie Michelle. Und nicht immer werden mir alle zustimmen – und das ist okay. Aber dennoch werden wir im Grunde alle ein ähnliches Bild von Michelles Performance-Stimme beschreiben.

Twang, hoher Kehlkopf und Neutral (?)

So, jetzt aber wirklich, los geht’s, wir halten uns dabei an die ersten drei Punkte. Und damit’s eben nicht zu unübersichtlich wird, schauen wir uns eine spezifische Phrase an. Im Fall von Michelle ändert sich der Sound während des Liedes aber nur geringfügig.

Unsere Phrase ist bei 1.07 bis 1.13:
„Du bist uuuunendlich wichtig, kleiner Mittelpunkt der Welt“

1. Mode

Hier müsste ich tatsächlich ein bisschen ausprobieren mit der jeweiligen Sängerin bzw mit Michelle… Auf „uuun“(endlich) ist es immerhin ein D5 (d“), wirkt aber nicht wahnsinnig laut und kraftvoll. Ich nehme aber schon noch einen metallischen Anteil im Klang war. Ich würde sagen, wir hören großteils Curbing, aber immer wieder auch Ausflüge in (full density) Neutral – je nach Vokal und Intensität. Immer wenn ihr metallischen Anteil hört, sind wir eher bei Curbing. Aber durch den vielen Twang auch in Neutral bei Michelle, ist das gar nicht sooo leicht zu unterscheiden. Aber ja: Großteils Curbing, mit gelegentlichen Neutral-Ausflügen, je nach Vokal. Jedenfalls: Für „Overdrive“ ist der Ton schon fast zu hoch und auch die Klangqualität passt nicht, für Edge ist der Klang zu wenig „extrem“.

2. Klangfarbe

Wenn wir die Wahl zwischen sehr hell – hell(er) – mittig – dunkler – sehr dunkel haben, wofür würdest du dich entscheiden? Ich wäre dann schon eher bei „sehr hell“. Warum?

Kehlkopfposition? Sehr hoch
Twang? Sehr viel
Nasalität? … wobei das eine eigene Debatte wäre, ob ein offener Nasengang den Klang heller macht oder eher dämpft… da gibt’s unterschiedliche Ansichten dazu. Jedenfalls: Ich hör‘ nur Twang und keine Nasalität.
Gaumensegel: keine besondere Beobachtung… 🙂
Zunge: wohl eher breit und eher hoch platziert
Mundöffnung? Eher rund und oval oder breit und „viereckig“? Optisch nicht sonderlich auffällig, mit leichter Tendenz zum Zeigen der oberen Zähne bzw. lächeln… also eher breiter, aber nicht sonderlich markant

Vor allem die ersten beiden Punkte sind für den Sound auch sehr ausschlaggebend, also Twang und Kehlkopfposition, Dinge, die oft, aber nicht zwingend (man denke an Klassik) Hand in Hand gehen in Pop/Rock/Musical…

3. Effekte

Da gibt’s ein paar Kleinigkeiten zu hören bei Michelle.
wichtig“ – kleiner Schlucher? (Vocal Break)
kleiner“ – kurzer Britney-Creak
„der Welt“ – Luft (und an dieser Stelle somit eindeutig als der Mode Neutral indentifizierbar…)
„Mittelpunkt“ – Mini-Ornamentation? Eine kleine Verzierung, wenn man genau hinhört

Vibrato? An dieser Stelle eigentlich keines hörbar, alles ziemlich straight.

Also so in etwa könnte man den Sound nachbauen, bzw. analysieren. Ich war überrascht, dass recht mühelos wirkende „uuunendlich“ doch ein D5 ist. Aber wenn ich an den Klang denke, würde ich CVT-Style eben auf Curbing tippen: Der Vokal passt, der metallische Sound wäre auch da, meiner Meinung nach. (Was in meiner Welt zur Bruststimme zählt – und Michelles Sound ist doch recht ausgeglichen in ihrer Range)

Zusammenfassend sei noch gesagt, jede:r von uns, wird anders klingen, selbst wenn wir theoretisch alle Bausteine genauest so zusammensetzen, wie Michelle. Denn schließlich ist jeder Vokaltrakt anders gebaut. Aber wir werden dem Sound dann doch ein gutes Stück näherkommen. Mich würde ja interessieren, wie sehr Michelle sich für ihre Art des Schlagersingens einen Sound selbst gebastelt hat – oder zu diesem akustischen Kindchenschema gedrängt wurde…. Wo wir wieder bei Britney wären…. Also dann jedenfalls: Viel Spaß beim Nachkochen 🙂

Und noch ein letztes Mal herzliche Einladung ins Theater im Neukloster: „Der Schatten“ ist ein kleines – aber wirklich hochkarätiges – Experiment in unserem Haus. Wer die Arbeiten von Nico Dorigatti kennt, weiß, dass es jedenfalls ein Stück mit vollem Einsatz der Darsteller wird – und fix nicht langweilig… 🙂 Allen Theater-Interessierten in Wiener Neustadt und Umgebung sei ein Besuch im Theater im Neukloster ans Herz gelegt!

Premiere in vielerlei Hinsicht: DER SCHATTEN – am 28.1. und 3.2.

Hier noch Werbung für ein spannendes Projekt im Theater im Neukloster, an dem ich so gaaaar nicht beteiligt bin. Ein Sprechstück braucht keinen musikalischen Leiter… Aber es sind großartige Schauspieler am Werk, die die Bühnenadaption von Nico Dorigatti umsetzen. Nico wird auch Regie führen. Das wird sicher super. Ich werd’s mir natürlich ansehen. Schaut doch auch vorbei!

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Veröffentlicht von Klemens Patek | vocalfriday

Vocal Coach | Sänger - Frage drei Gesangslehrer und du bekommst vier Antworten. Hier bekommst du die fünfte ;) Bei mir geht's ums Singen, um Gesangstechnik, um CVT (Complete Vocal Technique) und Themen wie Achtsamkeit, Selbstvertrauen und Künstlersein. Bin gespannt, wohin mich die Reise führt. Das wichtigste für mich: Respekt und freundschaftlicher Austausch. Bashing anderer Künstler oder Coaches liegt mir fern. Mein Motto: Richtig ist, was dem/der Sänger*in gut tut und konkret weiterhift!

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